Glück oder Last?
Menschen, die die Verfolgung durch die Nationalsozialisten im Kindesalter überlebt haben, child survivors, sind in den letzten Jahren verstärkt in den Mittelpunkt der Holocaust-Forschung gerückt. Das hat vor allem zwei Gründe: Zum einen sind sie heute, mehr als 75 Jahre nach den Ereignissen, die einzigen noch lebenden Zeitzeugen. Zum anderen wird seit den 1980er und 1990er Jahren die Bedeutung traumatischer – und oft nicht vollständig rational erinnerter – Kindheitserlebnisse für das spätere Leben mehr erforscht und anerkannt, als das noch in den Jahrzehnten davor der Fall war. Rebecca Clifford von der Swansea University in Wales hat nun ein großartiges Buch über diese Menschen geschrieben, für die das ihnen verliehene Attribut der glücklichen Überlebenden in vielen Fällen zur Bürde geworden ist: Survivors. Children’s lives after the Holocaust, Yale University Press 2020.
Ein Page-Turner
Warum finde ich dieses Buch großartig? Vor allem ist es – mit einer gewissen Übung in englischsprachiger Lektüre – gut zu lesen, geradezu ein Page-Turner. Es basiert auf umfangreichen Archiv-Recherchen und auf Interviews, die die Autorin selbst mit Protagonisten geführt hat, stets verbunden mit der methodischen Reflexion über diese oral history. So ist das Buch zugleich kritisch und dennoch ganz dicht dran an den Protagonisten, auch wenn diese zum Persönlichkeitsschutz stets nur mit vollem Vornamen und der Initiale ihres Nachnamens genannt sind. Wir begegnen denselben Kindern und ihrem Weg im Erwachsenenleben bis ins hohe Alter in den verschiedenen Kapiteln immer wieder und wir erkennen sie auch stets wieder, weil ihre Anzahl überschaubar gehalten ist und weil die Autorin uns stets kleine Hilfestellungen für das Wiedererkennen gibt.
Lebenswege
Diese Lebenswege sind tatsächlich auch der chronologische Faden des Buches. Es erzählt von dem anderen Krieg nach 1945, als für viele der überlebenden Kinder die Zeit der Unsicherheit und der oft mehrfachen Verpflanzung erst ihren Anfang nahm. Nach der Phase einer relativen Normalität in den 50er-80er Jahren, in denen sie selbst Familien gründeten, folgte oft – als die eigenen Kinder groß geworden waren – nach Trennung und Scheidung eine Besinnung auf die Lücken im eigenen Leben und der Versuch sie zu füllen, oft gegen starke Widerstände im eigenen Umfeld. Und schließlich heute: heute haben viele von ihnen ihre Geschichten erforscht, in Interviews wieder und wieder erzählt, dabei auch deren Komposition und Schlüssigkeit angepasst, sind zu moralischen Autoritäten des Diktums nie vergessen! geworden.Trauma, Zeugnis, Überleben, Schweigen
Eingebettet sind diese Erzählungen von Lebensgeschichten in die gesellschaftlichen und psychologiegeschichtlichen Strömungen der Zeit, wobei sich für mich einige ganz besondere Erkenntnisse ergaben im Hinblick auf die Fragen, wie sich individuelles und kollektives Gedächtnis zueinander verhalten und wie sich erst recht spät in der Psychologie – nämlich befördert durch die Debatte in Deutschland seit dem Bundesentschädigungsgesetz von 1956 und dem Vietnamkrieg – die Vorstellung von dauerhaften Traumata-Folgen entwickelte. Clifford gelingt es, Kernbegriffe bisheriger Forschung zu dem Thema zu hinterfragen und neu zu beleuchten: Trauma, Zeugnis, Überleben, Schweigen.
Unerwartete Wendungen
Noch eine Qualität des Buches ist seine Gliederung: Jede Überschrift eines Kapitels verrät bereits deutlich, worum es in dem Kapitel gehen wird. Dennoch gibt es immer eine unerwartete Wendung, zum Beispiel bei dem Begriff des Überlebens. Denn wer hätte gedacht, dass er diskutabel ist, dass Überlebende sich oft mit der Frage konfrontiert sahen, ob sie tatsächlich Überlebende waren und als solche anerkannt wurden? Und dass das getrennte Überleben mehrerer Mitglieder und deren Wiedervereinigung nach 1945 oft genau das Gegenteil eines Happy Ends bedeuteten?
Solche Wendungen machen das Buch nicht nur gut zu lesen, sondern auch im besten Sinne spannend.
Gedächtnis
Nur im letzten Kapitel zu verschiedenen Formen des Schweigens (Silences) finde ich den klaren Bezug zur Überschrift nicht so recht wieder. Das mag daran liegen, dass ich mir als Familienforscher, der sich besonders für das Phänomen des Schweigens innerhalb von Familien und dessen – auch transgenerationale – Folgen interessiert, von diesem Kapitel besonders viele neue Erkenntnisse erhofft hatte.
Sie sehen schon, dass ich wie in meiner ersten Besprechung zu einem Buch über eine Täterfamilie hier auf Seiten von Opfererzählungen (auch den Begriff des Opfers hinterfragt Clifford im Hinblick auf child survivors gewinnbringend) damit enden möchte, warum ich das Buch aus Sicht eines Genealogen grundsätzlich für lesenswert halte. Ich tue das mit einem Satz von Clifford mit Bezug auf den – in Buchenwald ermordeten – Soziologen Maurice Halbwachs und dessen Konzept vom kollektiven Gedächtnis: Das kollektive Gedächtnis einer Familie prägt stark den Blick eines einzelnen auf die Vergangenheit.