Spuren der NS-Verfolgung. Provenienzforschung in den kulturhistorischen Sammlungen der Stadt Hannover, hgg. v. Museum August Kestner. Johannes Schwartz und Simone Vogt, Hannover 2019.

Herkunft

Genealogie und Provenienzforschung haben viel miteinander zu tun. In beiden Teildisziplinen der Geschichtswissenschaft geht es um Herkunft, Herkunft von Menschen, Herkunft von Objekten (lateinisch provenire=hervorkommen). In der Washingtoner Erklärung von 1998 zur Erforschung der Geschichte von Nazi-Raubgut ist die Rede von Kunstwerken. Die Umsetzung dieser Erklärung für Deutschland fasst den Begriff weiter: demnach geht es nicht nur um Kunstschätze, sondern um Kulturgut allgemein, also um Objekte mit kultureller Bedeutung unabhängig von ihrem Geldwert. Das können Objekte in einem Museum oder einer Bibliothek sein, aber eben auch Objekte in Privatbesitz, Familienerbstücke. Darum geht es in der Provenienzforschung: woher stammen die Objekte in öffentlichen Sammlungen und auf welchen Wegen sind sie dort hingelangt, legal – etwa über den Kunsthandel –, durch Raub oder Enteignung, oder aufgrund von (direktem oder indirektem) Zwang oder Druck. Um Besitzgeschichten zu rekonstruieren und anspruchsberechtigte Nachfahren zu ermitteln, ist die Genealogie meist die Schlüsseldisziplin.

Beispiel Hannover

Das von Simone Vogt und Johannes Schwartz herausgegebene Buch dokumentiert wie die dazugehörige Ausstellung im Museum August Kestner in Hannover im Jahr 2019 die laufenden Arbeiten zur Herkunft von Objekten in den kulturhistorischen Sammlungen der Stadt. Neu ist diese Arbeit in Museen eigentlich nicht. Neu (seit 1998/99) ist aber die systematische Untersuchung von Objekten mit unklarer Herkunft, die zur Zeit der Nazi-Diktatur oder danach erworben wurden. Neu ist auch die Schaffung von eigenen Personalstellen zu diesem Zweck. Durch sie sind archivalische Recherchen über die sonstige Museumsarbeit hinaus überhaupt erst möglich.

Zu einem Wäscheschrank und einer Stickerei aus dem einstigen Besitz der wohlhabenden, dann von den Nazis enteigneten und deportierten Klara Berliner schreibt Schwartz, diese Objekte seien materiell gesehen vielleicht nur eine Randerscheinung. Unabhängig davon seien sie aber von einem hohen symbolischen und emotionalen Wert.

Warum es Jahrzehnte Lobbyarbeit von Seiten jüdischer Verbände brauchte und über fünfzig Jahre bis nach Kriegsende dauerte, auch solche Werte und die Notwendigkeit systematischer Provenienzforschung für die Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit anzuerkennen, ist und bleibt für mich unverständlich.

Das Buch

Das Gesicht Klara Berliners mit ihrem großen, wachen Blick schaut einem vom Buchcover aus an. Es ist ein schönes Buch. Die Struktur-Titelprägung macht die Spuren auch fühlbar. Auf den vordersten und hintersten Seiten (vor dem Schmutztitel und hinter dem Impressum) sind ganzseitig Archivalien wie Bestandslisten und Briefe abgedruckt, in denen die Provenienzforschung nach solchen Spuren sucht.

Die einzelnen Beiträge reichen von klassischen Katalogtexten mit Objektbeschreibungen bis hin zu Forschungsberichten. In den meisten Fällen sind sie angenehm lesbar verfasst und – für mich aus Genealogensicht – dann besonders spannend, wenn es um die Rekonstruktion von Lebensgeschichten geht. Um die von Menschen, aber auch um die musealer Objekte. Auch deren – wenn möglich vollständige – Biographie von der Herstellung (oder im Fall archäologischer Exponate: von der Auffindung) bis zu ihrer heutigen Präsentation im Museum in den Blick zu nehmen, so Simone Vogt in einem ihrer Texte, sei lohnenswert. Und schließlich – jetzt spreche ich wieder als Genealoge – gehören Geschichten von Objekten auch immer mit Lebensgeschichten von Menschen zusammen.

Spuren der NS-Verfolgung: Stammbaum der Familie von Klara Berliner
Spuren der NS-Verfolgung: Buchcover

Mehr als eine Randerscheinung

Neben dem Schrank und der Stickerei geht es um Einzelobjekte und Sammlungen wie etwa Goldmünzen, Statuetten, Bücher. Also nicht um international aufsehenerregende Fälle wie die Gemäldesammlung Gurlitt, das Bernsteinzimmer oder Eisenbahnzüge voller Nazi-Gold.

Für Menschen, die wie ich selbst keinen persönlichen Bezug zu Hannover haben, mag die Spurensuche in diesem Buch auf den ersten Blick also auch nur eine Randerscheinung der Provenienzforschung sein. Auf den zweiten Blick aber ist sie mehr. Denn das Buch dokumentiert exemplarisch, mit welchem Ernst, Aufwand und Verantwortungsbewusstsein in der niedersächsischen Hauptstadt erst auf politischer Ebene die finanziellen Rahmenbedingungen geschaffen und dann auf wissenschaftlicher Ebene die Projekte zur historischen Aufarbeitung begonnen wurden.

Gerecht und fair

Der Grundsatz aus der Washingtoner Erklärung, es solle bei nachgewiesener Raubkunst eine gerechte und faire Lösung gefunden werden, wird von den AutorInnen geradezu mantrahaft wiederholt. Das klingt so, als solle aus Museumssicht betont werden, dass eine Rückgabe an ErbInnen nicht das ultimative Ziel sei. Tatsächlich trägt das in der Erklärung genannte Gebot den häufig komplizierten Umständen Rechnung. In manchen Fällen von verfolgungsbedingtem Entzug kann kein Erbe ermittelt werden, in anderen mehrere ErbInnen, die zu den verfolgten Vorfahren in unterschiedlichen Verwandtschaftsverhältnissen stehen. Auch können testamentarisch von den Verfolgten begünstigte Personen selbst in das Nazi-System verstrickt gewesen sein (dann schließt die Washingtoner Erklärung eine Restitution aus). Oder Testamente oder Verkäufe gingen auf verfolgungsbedingte Zwänge zurück, so dass nicht von freiwilligen Entscheidungen auszugehen ist. Auch dann ist der Rechtsanspruch der ermittelten Erben oder Käufer bzw. ihrer Nachfahren zweifelhaft.

Diese Komplexität der Provenienzforschung darzustellen, kann am besten an einem eng umgrenzten Gebiet wie hier den kulturgeschichtlichen Sammlungen der niedersächsischen Landeshauptstadt Hannover gelingen. Und die Darstellung gelingt in diesem Buch gut, nicht zuletzt durch die Beteiligung verschiedener Institutionen (Museen, Bibliotheken, Archive) und Disziplinen (Kunstgeschichte, Geschichte, Bibliothekswissenschaft).

Görings Stele

Außerdem reicht der Fokus oft weit über Hannover hinaus. Dies wird besonders an einer griechischen Grabstele im August Kestner Museum und an der Erforschung ihrer Provenienz deutlich. Schwartz kann nachweisen, dass es sich dabei mit großer Wahrscheinlichkeit um ein Geschenk von Robert Ley, dem Leiter der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeitsfront, an Hermann Göring zu dessen 50. Geburtstag am 12.1.1943 handelte. Göring verleibte die Stele seiner umfangreichen Kunstsammlung ein. Diese befand sich in seinem repräsentativen Jagdpalast Carinhall in der Schorfheide nördlich von Berlin, bis dieser zwei Jahre später wie die gesamte verbrecherische Hybris des 1000jährigen Reiches in sich zusammenfiel.

Wie ein Puzzle

Vor einigen Monaten habe ich mich in der Schorfheide auf die Spurensuche nach Resten von Carinhall begeben, darüber in meinem Blog geschrieben (> Carinhall) und daraufhin eine Nachricht von Johannes Schwartz mit dem Verweis auf die Stele im Kestner Museum und auf das hier besprochene Buch erhalten.

Die Fundamentreste im Wald, Die Carinhall-Ausstellung im nahen Museum in Groß Schönebeck, die Stele im Museum in Hannover, die Biographie der Stele und die Biographie Görings und seiner Familie (noch 2014 – 4 Jahre vor ihrem Tod – forderte die in Carinhall getaufte Tochter Edda die Herausgabe von Teilen des Vermögens ihres Vaters) – das alles sind einzelne Teile eines wichtigen Kapitels aus der deutschen Geschichte. Und wie bei einem Puzzle ergibt sich erst dann ein Bild, wenn möglichst viele Teile zusammengefügt sind.

Spuren der NS-Verfolgung: die Grabstele aus dem Besitz Hermann Görings

Der Sinn der Geschichte

Je mehr wir über die Vergangenheit wissen, desto kleiner ist die Gefahr, dass wir sie vergessen. In diesem Sinne ist Provenienzforschung weit mehr als die Rekonstruktion von Besitz und Herkunft von Museumsobjekten. Provenienzforschung ist über das moralische Gebot zur Wiedergutmachung hinaus ein wichtiger Beitrag zur Erinnerungskultur. Denn Spuren der Vergangenheit zu deuten und das Wissen über die Vergangenheit bereitzustellen als Grundlage für eine Kultur des Erinnerns: das ist der gesellschaftliche Auftrag an die Geschichtswissenschaft mit all ihren Teildisziplinen.

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