Bilder und Erinnerung

In Berlin herrschen noch immer Winter und Corona-Lockdown. Es gibt also nicht viele Möglichkeiten, andere Orte aufzusuchen als den eigenen Schreibtisch. Was wären wir in solchen Zeiten ohne die Kraft der Erinnerung und ohne unsere Erinnerungshilfen: im visuellen Zeitalter sind das eher Fotos als Tagebücher und im digitalen Zeitalter oft – wie auch bei mir – viele Fotos, sehr viele. Um Bilder und Erinnerung geht es in diesem Beitrag auf verschiedenen Bedeutungsebenen.
Ich denke zurück an einen heißen Julitag vor fünf Jahren, an dem ich an einem ungewöhnlichen Ort die in Chapel Hill/North Carolina lebende deutsch-amerikanische Fotografin Gesche Würfel kennenlernte.

Der Schwerbelastungskörper für Hitlers Germania
Foto: der Schwerbelastungskörper von der 2009 errichteten Aussichtsplattform aus.

Germania

Auch den Ort kannte ich vorher noch nicht, obwohl ich mehrere Jahre in seiner Nähe gelebt hatte, nicht weit vom Bahnhof Südkreuz in Berlin-Tempelhof. Er ist einer der merkwürdigsten Bauzeugen der Nazizeit in Berlin und auch einer der unbekanntesten. So klobig und massig wie er selbst ist sein Name: Schwerbelastungskörper. Der Volksmund hat daraus kurz den Naziklotz gemacht. Er steht dort, wo Adolf Hitler – wenn es nach ihm gegangen wäre – seine eigenhändige Skizze von einem 117 Meter hohen und 170 Meter breiten Triumphbogen verwirklicht hätte, ausgeführt von seinem Architekten Albert Speer. Nun ging es ja in der Diktatur eigentlich immer nach dem Führer, aber diese Pläne durchkreuzte der Krieg. Es waren die größenwahnsinnigen Pläne für die Welthauptstadt Germania, die um 1950 hätte fertiggestellt sein sollen. Aber da lag das 1000jährige Reich ja schon längst in Schutt und Asche. Als zentrales Gebäude sollte im Spreebogen zwischen Tiergarten und dem heutigen Hauptbahnhof eine über 150.000 Menschen fassende Kuppelhalle entstehen. Der Reichstag hätte daneben wie ein Zwerg ausgesehen. Von dieser Ruhmeshalle oder Halle des Volkes aus sollte als Nord-Süd-Achse in Richtung Flughafen Tempelhof ein breiter Prachtboulevard führen und an dem Triumphbogen enden. Also am heutigen Naziklotz.

Modell vom geplanten Germania mit dem Standort des Schwerbelastungskörpers

Foto: Modell der geplanten Reichshauptstadt Germania mit der Kuppelhalle (im Bild unten) und der Nord-Süd-Achse zum Triumphbogen, dem Standort des Schwerbelastungskörpers (roter Pfeil). Die freie Fläche links oben ist der Flughafen Tempelhof.

Oppressive Architecture: Fotos von Gesche Würfel im Schwerbelastungskörper in Berlin

Foto: Ausstellung Oppressive Architecture von Gesche Würfel im Schwerbelastungskörper.

Harter Klotz, weicher Boden

Dieser Klotz wurde 1941/42 unter Ausbeutung französischer Kriegsgefangener gebaut, um die Belastbarkeit des Bodens zu prüfen. Dabei ist der 14 Meter hohe und 21 Meter breite aufragende Betonzylinder nur ein Teil des Bauwerks: mit einem Durchmesser von rund 11 Metern reicht es 18 Meter tief in den Boden hinein. Als die Messungen der installierten Geräte erst 1948 ausgewertet wurden, stellte man fest: In den ersten zweieinhalb Jahren war der Klotz bereits um fast 20 cm weiter eingesunken, der Boden wäre für Germania also schlichtweg zu weich gewesen.
Der Klotz war für eine Sprengung zu hart und lag zu nahe an einem Wohngebiet; daher blieb er wie viele Hochbunker in deutschen Städten nach dem Krieg stehen und wurde 1995 unter Denkmalschutz gestellt. Am 12. September 2009 eröffnete zum Tag des offenen Denkmals der Informationsort Schwerbelastungskörper.

Gesche Würfel fotografiert ihre Ausstellung im Schwerbelastungskörper in Berlin
Foto: Gesche Würfel fotografiert ihre Ausstellung im Schwerbelastungskörper.

Eine Metapher

Für mich eröffnete sich hier 7 Jahre später, eben an diesem heißen Julitag 2016, ein neuer Blick auf die Diktatur des Nationalsozialismus. Neu war er, weil der Ort weniger direkt wirkte: Er war kein reiner Ort der Information und Dokumentation wie andere authentische Orte aus der Zeit der Diktatur. Es gab hier ja nicht realisierte Reste der Reichshauptstadt zu sehen wie etwa in Nürnberg die Gebäude des Reichsparteitagsgeländes. Oder die Baracken, Wachtürme und rekonstruierte Zaunanlagen wie im ehemaligen Konzentrationslager Sachsenhausen (zu meinem Beitrag über Sachsenhausen hier klicken). Der Schwerbelastungskörper wirkte auf mich vor allem durch eine Metapher, die der Bedrückung. In Worte gefasst mag das recht plakativ klingen: unter dem vorkragenden Rand der überirdisch liegenden Betonmassen hindurchzugehen, lässt einen die ganze Last der Geschichte spüren.

Oppressive Architecture: Fotos von Gesche Würfel im Schwerbelastungskörper in Berlin

Gesche Würfel

Die Bedrückung empfand ich bei meinem Besuch nicht allein durch das Bauwerk selbst, sondern auch durch eine Fotoausstellung, die zu jener Zeit in diesem bedrückenden Zwischenraum aufgebaut war. Nie habe ich einen so bedeutungsstarken Bezug zwischen einer Ausstellung und ihrem Ausstellungsort gesehen. Es waren Bilder von Gesche Würfel unter dem Titel Oppressive Architecture – unterdrückende oder bedrückende (das englische Wort oppressive umfasst dieses Bedeutungsspektrum) Architektur. Die Begegnung mit diesen Bildern war für mich mehrfach unmittelbar: Die Künstlerin selbst stellte sie mir vor. Ich wiederum fotografierte Gesche Würfel beim Fotografieren des Schwerbelastungskörpers – gleichzeitig eins der Fotomotive, neben Zeugnissen wie der Kongresshalle in Nürnberg, dem Leichenkeller im Konzentrationslager Sachsenhausen, dem Torhaus in Auschwitz, dem Frauengefängnis in Ravensbrück. Beim Betrachten der Bilder ließ sich hier also die Bedrückung nicht nur sehen, sondern auch – über dem eigenen Kopf – spüren.

Diktatur, Architektur und Erinnerung

Gesche Würfel selbst schreibt zur ihrem Projekt:

„Oppressive Architecture erforscht und dokumentiert die Beziehung zwischen Architektur und Unterdrückung während des deutschen Nationalsozialismus. Architektonische Strukturen der Unterdrückung werden an Orten unterschiedlicher Art fotografiert. Das Projekt untersucht die unmenschliche Art und Weise, wie Häftlinge in deutschen Konzentrations-, Arbeits- und Todeslagern leben und arbeiten mussten, dargestellt durch deren Architektur. Ich fotografiere auch Propaganda-Architektur um zu zeigen, wie die Nazis dominante Strukturen nutzen, um die Öffentlichkeit zu unterdrücken und ihr ihre Version von einem mächtigen deutschen Staat aufzuzwingen.
Das Projekt erforscht, wie diese architektonischen Strukturen bis heute die Landschaft, ihre Bewohner und unser Verständnis von Geschichte beeinflussen. Dabei geht es mir um eine breite Palette von verbliebenen physischen Strukturen der Unterdrückung. Damit wird auch deren historischer Wert anerkannt und die Frage danach aufgeworfen, wie Architektur genutzt werden kann, um an die Vergangenheit eines Landes zu erinnern und eine versöhnende Kraft zu entfalten.“
(Quelle: https://geschewuerfel.com/Oppressive-Architecture, Übersetzung von MJ)

Erinnerung und Kunst

Bilder sind für die Erinnerung unverzichtbar. Sei es nun im Winter für die Erinnerung an den Sommer oder in der Demokratie für die Erinnerung an die Diktatur. Nur wer die Vergangenheit kennt, kann die Gegenwart schätzen. Das gilt um so mehr in der Zeitenwende, in der wir uns gerade befinden: Die Zeitzeugen sterben aus und die Erinnerung aus eigener Erfahrung, die Möglichkeit einer Vermittlung von Erinnerung aus erster Hand geht verloren. Um so mehr bedarf es authentischer Informations- und Gedenkorte wie den Schwerbelastungskörper. Und um so mehr bedarf es Menschen, die über eine rein historische Aufarbeitung hinaus die Erinnerung wachhalten, indem sie verschiedene Sinne ansprechen in einem breiten Spektrum zwischen Dokumentation und Provokation: Künstler und Künstlerinnen wie Gesche Würfel.

Projekttext und Ausstellungsbilder mit freundlicher Genehmigung von © Gesche Würfel, Fotos von MJ.

Zu Oppressive Architecture, zu Gesche Würfel und ihren weiteren Projekten wie dem aktuellen mit dem Titel When Trees are Dying:

https://geschewuerfel.com/