Kennen Sie das auch?
Lenschow gibt es nicht mehr. Sind Sie auch schon einmal während Ihrer Recherchen auf einen Ort gestoßen, den Sie nicht finden konnten? Weder auf google maps noch auf einer anderen modernen Karte? Ich habe das bereits mehrmals erlebt, und jedes Mal hat es mich einige Zeit länger gekostet als sonst, den Ort dann doch eindeutig zu identifizieren. Am Anfang – als ich noch weniger Erfahrung bei solchen Recherchen hatte – hat es mich manchmal sogar fast zur Verzweiflung gebracht. Heute rieche ich den Braten meistens sofort. Denn ebenso wie es nicht viele Möglichkeiten gibt, warum ein Säugling weint – diese Erkenntnis bringt die Erfahrung der Vaterschaft mit sich–, gibt es nicht viele Möglichkeiten bei einem verschwundenen Ort.
Nur der Name
Bei der ersten und häufigsten Möglichkeit ist der Ort gar nicht wirklich verschwunden, sondern sein Name. Der Ort wurde umbenannt. Das ist natürlich immer so etwa bei jenen Orten, die früher zum Deutschen Reich gehörten, heute aber in Polen, Tschechien, der Ukraine oder Russland liegen. Manchmal ist der alte deutsche Name noch gebräuchlich wie bei Königsberg, manchmal – je kleiner der Ort, desto öfter – eher nicht. Auch andere Gründe für Umbenennungen kann es natürlich geben, sind bei Ortsnamen aber eher selten, anders als zum Beispiel bei Straßennamen.
Forschung
Aber eigentlich möchte ich hier von den Orten schreiben, die wirklich verschwunden sind. Zu ihnen gibt es in Deutschland sogar eine eigene Wissenschaftsdisziplin, die sogenannte Wüstungsforschung. Ein Ort, der irgendwann von den Landkarten verschwand, heißt Wüstung. Die Gründe dafür – in der Neuzeit oder schon im Mittelalter – können vielfältig sein. So kann ein Wandel in der Landschaft wie zum Beispiel eine Überschwemmung – oder eher eine Abfolge wiederholter Überschwemmungen – zur Zerstörung oder Aufgabe eines Ortes geführt haben. Wenn sich ein Flusslauf änderte, wurden an ihm gelegene Orte oft ebenfalls verlegt und zum Teil neu benannt. Wirtschaftliche Faktoren konnten wesentlich sein, aber auch demographische Veränderungen etwa durch Krankheit oder Krieg. Das Wort Wüstung kommt natürlich von Wüste. Sie ist oft für den Laien in der Landschaft kaum mehr auffindbar, anders als der Lost Place, wie eine Ruinen- oder Geisterstadt. Lost Places erfreuen sich ja wegen ihrer romantischen Morbidität aktuell einer großen Beliebtheit, vor allem als Foto-Locations. Es ist faszinierend zu beobachten, wie sich die Natur einen Ort zurückerobert. Eine Wüstung ausfindig zu machen, ist dagegen eher ein Fall für die Geschichtswissenschaft oder die Archäologie, in Verbindung mit der Geographie.
Bisher haben sich mit dieser Thematik vor allem Lokal- oder RegionalforscherInnen befasst. Wüstungsforschung ist eben auch ein Teil Heimatgeschichte.
Ein Buch
Seit kurzem gibt es aber auch eine übergreifende Einführung in Buchform: Eike Henning Michl, Wüstungsforschung in Deutschland. Eine Einführung, Norderstedt 2021. Rainer Schreg schreibt in seiner Rezension für HSozKult: Eike Michl versucht eine umfassende Einführung in die Thematik zu geben, die für ein breiteres Publikum gedacht ist und daher als ‚preiswertes Arbeitsheft‘ daherkommt. (…) Die Faszination von Lost Places/verlorenen Orten ist kein neues Phänomen. Die Fragen, wie es sein kann, dass ein Ort verlassen wurde, wie sich die Natur den Ort zurückgeholt hat und wer hier gelebt hat, verbindet Forscher und die moderne Szene, die ihre Bilder verlassener Häuser in den Social Media teilt. Das voyeuristische Element allerdings geht beim Blick auf die sogenannten Wüstungen des Mittelalters und der frühen Neuzeit weitgehend verloren, denn viele sind so zerfallen und so sehr verschwunden, dass allein ihr Aufspüren die Forschung vor große Herausforderungen stellt.
Der Turm im See
Mit der frühen Neuzeit war das Phänomen der Wüstung aber natürlich nicht zuende. Es dauert bis heute an, auch wenn die Ursachen im 19. oder 20. Jahrhundert meist etwas anders gelagert waren als in den Jahrhunderten davor. Fast immer waren es wirtschaftliche oder politisch-militärische Gründe. Orte verschwanden in Stauseen. Im italienischen Südtirol ist der alte Kirchturm im Reschensee sogar zu einem Wahrzeichen geworden. In Deutschland war und ist bis heute der größte Ortsfresser der Kohletagebau. Bei dem Ort Niemegk war es einmal besonders kniffelig für mich. Es gibt nämlich durchaus eine Stadt dieses Namens in Brandenburg. Die Gegend stimmte aber überhaupt nicht überein mit meinen sonstigen Forschungen in dem Fall. Schließlich fand ich mit Hilfe alter Karten einen Ort desselben Namens im südlichen Sachsen-Anhalt, im Braunkohlerevier bei Bitterfeld (Karten: https://kartenforum.slub-dresden.de/). Er wurde schlichtweg weggebaggert, die Grube wurde zum See. Dieser Ort war der, den ich suchte. Eine bessere Illustration für meinen Leitspruch Keine Genealogie ohne Landkarte kann es kaum geben.
Häuserkampf
Militärische oder politische Gründe können ebenfalls für das Verschwinden eines Ortes verantwortlich sein. In dem Dorf Wollseifen in der Eifel etwa übten ab 1946 die britischen – und später die belgischen – Streitkräfte den Häuserkampf, nachdem es für den Truppenübungsplatz Vogelsang geräumt worden war. 2006 wurde der Übungsplatz aufgegeben, und heute kann der Lost Place Wollseifen wieder besucht werden. Dort stehen noch einige Häuser und die Kirche.
Lenschow
In Lenschow steht dagegen kein Gebäude mehr. Nun kehre ich wieder zu dem Dorf vom Anfang dieses Textes zurück. Tatsächlich bin ich vor kurzem dort gewesen und habe Fotos von der Wüstung gemacht. Sie liegt sehr romantisch südlich von Lübeck in Schleswig-Holstein an dem Fluss Wakenitz. Als eine skurrile Besonderheit leben hier wild inzwischen mehr als 300 südamerikanische Nandus, nachdem einige Tiere im Jahr 2000 aus einer nahen Zuchtfarm ausgebrochen waren.
In Lenschow war Ende des 19. Jahrhunderts eine Person aus einem meiner Forschungsprojekte geboren, deswegen war der Ort für mich von Interesse. Mit dem Fahrrad kam ich zwar eher zufällig während eines Kurzurlaubs hier vorbei, aber wenn es um Geschichte geht, begleitet mich meine Arbeit auch in der Freizeit. An das ehemalige Dorf erinnern eine Informationstafel, ein beschrifteter Findling und die Webseite http://www.lenschow-in-memoriam.de/. Das Dorf wurde 1975 von den DDR-Behörden im Zusammenhang mit Grenzsicherungsmaßnahmen abgerissen, oder: entsiedelt. So heißt das offiziell. Hier verlief die Grenze zwischen beiden Deutschen Staaten, heute die Grenze zwischen den Bundesländern Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern. Hier ist wie auf den 1393 Kilometern bis zur Grenze zwischen Bayern und Sachsen dank der politischen Wende des Jahres 1989 der Todesstreifen zum Grünen Band geworden, einem der größten Naturschutzprojekte in Deutschland.