Entdeckungen am Rande der Genealogie
Kennen Sie Wünsdorf? – ich kannte es nicht, bis ich es auf der Landkarte in der Nähe von Zossen fand. Zossen ist eine Kleinstadt südlich von Berlin, mit einem hübschen, aber viel zu engen Amtsgerichtsgebäude. Dort hatte ich kürzlich zu tun für ein Genealogie-Projekt. Nach der Familienforschung wollte ich noch ein wenig wandern gehen und suchte dafür einen schönen Ort in der Nähe, möglichst mit viel Wald. So fand ich Wünsdorf.Schießplatz mit Müll
Viel Wald gibt es dort tatsächlich, aber „schön“ ist das falsche Wort. Von wem der Müll stammt, auf den ich überall stieß, konnte ich nicht herausfinden. Historisch aus dem Weltkrieg ist er sicher nicht. Aber er erinnert daran, dass hier schon vor 100 Jahren keine Naturidylle herrschte. Ab 1910 entstand in Wünsdorf ein Truppenübungsplatz der preußischen Armee, mit Kasernen, Schießschule und Militärturnanstalt. Nach einem Intermezzo ziviler Nutzung infolge der Niederlage und Demilitarisierung 1918 kamen 1933 die Nazis.
Die Nazis
Schon ab 1933 war hier der Standort der neuen Panzertruppe, getarnt als Kraftfahr-Lehrkommando. Krieg gehörte von Anfang an zum Plan der neuen Machthaber, kein kleiner Krieg, sondern ein Weltkrieg. 1936 wurde Wünsdorf Hauptquartier des Oberkommandos des Heeres, 1938 auch des neu gebildeten Oberkommandos der Wehrmacht. Für beide Einrichtungen wurden Bunkeranlagen errichtet, das Oberkommando des Heeres erhielt die Anlage Maybach I, das der Wehrmacht Maybach II nebenan.
Maybach
Beide Maybachs sahen aus wie Ferienhaussiedlungen, mit Giebeldächern und Fenstern. Aber auch das war nur Tarnung. Hinter den Fassaden befand sich meterdicke Stahlbetonstruktur. Unterirdische Gänge verbanden die verschiedenen Gebäude miteinander, und von Maybach I verlief zudem ein langer Tunnel nach Zeppelin.
Zeppelin
Zeppelin war auf 117 x 40 Metern die unterirdische Kommunikationszentrale der Deutschen Reichspost für den Weltkrieg. Von hier wurden die Befehle des Generalstabs in alle Richtungen verschickt, hier liefen die Nachrichten von den verschiedenen Fronten zusammen. Eine Heizung gab es nicht: riesige Telegrafen- und Telefonmaschienen sorgten für mehr Wärme als genug für die Hunderte von Fräuleins vom Amt und andere Mitarbeiter.
Nach dem Krieg
Nach dem Weltkrieg wurden die beiden Maybachs gesprengt, Zeppelin und das Gelände von der Roten Armee genutzt. Dann kamen Glasnost und Perestroika, die Wende und die Deutsche Einheit. Die Bundeswehr hatte keine Verwendung für den Standort oder scheute dessen historische Last. Das Land Brandenburg übergab die besondere Immobilie an die Bücherstadt Tourismus-GmbH mit der Verpflichtung, sie zu erhalten und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
Bunker und Bücher
In einige der alten Kasernengebäude zogen militärhistorische Sammlungen zum Weltkrieg und zur Zeit der Roten Armee ein, in andere riesige Lager und Läden mit gebrauchten Büchern. „Bücherstadt Wünsdorf“ heißt es schon am Ortseingang. Doch in Zeiten von Abe-Books und Booklooker scheint Wünsdorf im Wald damit nicht gerade im Heute und Jetzt angekommen zu sein. So klingt die Aussage des Führers doch etwas erstaunlich, die GmbH finanziere sich ausschließlich durch Besuchereinnahmen.
Leidenschaft
Erstaunlich finde ich es auch, dass sich an diesem kalten und verschneiten Märztag 50 Menschen zu der Bunkerführung versammeln. Unbegleitet kann man das Gelände nicht betreten, und mitgliefert wird in den 90 Minuten des Rundgangs eine detaillierte frei vorgetragene Geschichte des Standortes und seiner Gebäude. So detailliert und frei, dass ich mich über die Leidenschaft wundere, mit der sich Menschen für die Geschichte des Weltkriegs interessieren. Ich möchte das aber überhaupt nicht werten. Leidenschaft für Genealogie und Familiengeschichte ist von außen betrachtet sicherlich auch für viele verwunderlich.
Abstieg und Aufstieg
Wir steigen durch ein kleines Haus hinab in den Weststollen, der zur Kommunikationszentrale Zeppelin führt, bekommen dort jeden Raum mit Spuren alter Einbauten und Geräde erklärt, und steigen am Haupteingang durch ein sowjetisches Schleusensystem mit atomsicheren Bunkertüren wieder ans Tageslicht. Für den Laien lassen sich die Spuren des Weltkriegs von denen des Kalten Kriegs nicht leicht unterscheiden. Auf Waldwegen geht es zum benachbarten Maybach I.
Verfall
Die gesprengten Betonteile von Maybach I sehen aus wie die Bauklötze von Riesen. Zum Teil sind noch die Formen der Giebel erhalten, doch die Natur holt sich langsam das Gelände zurück. Ein Aufhalten des Verfalls wird nicht versucht, wäre aufgrund der Schwere des Materials auch gar nicht zu realistischen Kosten möglich.
Walkürentod in Wünsdorf
Was hier baulich verfällt und trotzdem weiter in Erinnerung gehalten werden sollte und muss, ist Schauplatz zentraler Ereignisse deutscher Geschichte. Das hatte ich nun wirklich nicht erwartet, als ich bei meiner Suche nach einem schönen Stück Wald in der Nähe von Zossen zufällig auf Wünsdorf stieß.
So hatte hier Reinhard Gehlen seinen Arbeitsplatz, der spätere Gründer des Bundesnachrichtendienstes.
Und hier erschoss sich am 23. Juli 1944 General Eduard Wagner, um seiner Verhaftung und sicheren Hinrichtung zu entgehen. Drei Tage zuvor hatte er Claus Graf Schenk von Stauffenberg auf dem nahen Flugplatz Rangsdorf ein Flugzeug zur Verfügung gestellt. Stauffenberg war mit zwei Bomben in einer Aktentasche nach Ostpreußen ins Führerhauptquartier Wolfsschanze geflogen. Als er zurückkehrte, lebte Adolf Hitler noch. Das Unternehmen Walküre war gescheitert.
Was bleibt
Krieg hinterlässt Trümmer und Wunden, die lange nicht verheilen. Bis heute nicht. Nicht nur der Weltkrieg, sondern jeder Krieg. Und wenn ich an diesen Tag zurückdenke, werde ich nicht an die Genealogie in Zossen denken, wird nicht die Familiengeschichte mich beschäftigen, sondern die Geschichte vom Weltkrieg in Wünsdorf im Wald.