Sperrstunde

Mein Buch des Monats ist dieses Mal ein Film. Vor einigen Tagen habe ich ihn mir – in dieser kinolosen Zeit – im Heimkino eines befreundeten Haushalts angeschaut.
Eine Gruppe von Menschen bedrängt den jungen Schaffner Leopold Kessler (Jean-Marc Barr), den von einer schnaufenden Dampflok gezogenen Zug in Darmstadt außerplanmäßig anzuhalten. In einem Sarg haben sie Max Hartmann (Jørgen Reenberg) dabei, der sich bildgewaltig in der Badewanne die Pulsadern aufschnitt.
Schuldgefühle plagten den früheren Direktor der Zentropa Transport-Gesellschaft nach der Erpressung eines Juden (Lars von Trier), damit dieser ihm einen falschen Persilschein ausstellte.

Notbremse

Nun soll Hartmann auf einer großen Trauerfeier beigesetzt werden. Aber es herrscht Versammlungsverbot. Daher das geheime Manöver. Und eine Ausgangssperre gibt es auch. Leopold, der idealistische Deutsch-Amerikaner, ohne eigenen Fahrplan in diesem tristen, zerbombten Nachkriegsdeutschland, handelt wie verlangt: Bei Darmstadt zieht er die Notbremse. Die Notbremse wird oft gezogen in diesem Film. Einmal leuchtet sie in der meist schwarz-weißen Bilderwelt glutrot auf. Am Ende versagt sie. Kaputt, wie alles in Europa. Der Zug rast weiter auf die Brücke zu, in den Tod.

Sterben

Notbremse, Ausgangssperre, verbotene Beerdigungsfeiern: Lars von Triers dritter Teil seiner Europa-Trilogie von 1991 liest sich beinahe wie ein düsterer Kommentar zur aktuellen Pandemie-Situation. Gestorben wird auch, unerträglich lang. You are in a train in Germany, brummt die hypnotische Stimme Max von Sydows aus dem Off. The train is sinking. You will drown, on the count of 10 you will be dead. 1… 2… 3 … Die Abstände zwischen den Zahlen werden immer länger.

Reste der Modelleisenbahn von Hermann Göring

Alles ist kaputt in Europa, am Ende auch Kesslers Arbeitsplatz, Schlafwagen Nummer 2306; wie Hermann Görings Modelleisenbahn aus Carinhall (mehr über Carinhall hier).

Widerstand

Widerstand von rechts gibt es ebenfalls. Ewiggestrige wehren sich gegen Entnazifizierung und Wiederaufbau. Sie brüllen aber nicht in sozialen Netzwerken, sondern agieren – wie es sich für einen Film Noir gehört – aus dem Untergrund heraus mit Pistolen und Bomben. Diese Werwölfe sind durchaus historisch. Heinrich Himmler, Reichsführer der SS, gründete die Partisanen-Organisation im September 1944. Sie sollte Sabotageakte verüben und Deutsche durch Terror davon abhalten, mit den Alliierten zu kooperieren. Einer ihrer – insgesamt wenigen – Erfolge war die Erschießung des durch die Amerikaner eingesetzten Aachener Oberbürgermeisters Franz Oppenhoff. Ilse Hirsch, eine 23jährige Hauptgruppenführerin des nationalsozialistischen Bundes Deutscher Mädel (BDM) führte dabei die Attentäter zu ihrem Opfer.

Richtig und falsch

In Lars von Triers Film heißt der Bürgermeister Ravenstein, und Ilse Hirsch ist Katharina Hartmann (Barbara Sukowa), die Tochter des toten Eisenbahn-Magnaten. In sie verliebt sich Leopold gleich bei seiner ersten Ausbildungs-Bahnfahrt. Er möchte alles richtig machen, den Deutschen und den Amerikanern gleichermaßen helfen bei dem Weg aus der Katastrophe von Faschismus und Krieg. Aber er macht alles verkehrt, einschließlich dieser Liebe und Heirat mit Katharina, die nichts anderes ist als ein Manöver der Werwölfe mit dem Ziel, ihn zu ihrem Werkzeug zu machen. Oder ist es vielleicht doch mehr? Aus dieser Unsicherheit modelliert der Film seine Spannung. Für welche Seite wird Katharina sich entscheiden, für welche Leopold? – der sich am liebsten gar nicht entscheiden wollen würde.

Lachen

Bei aller Tristesse und Todespräsenz hat der Film auch Humor. Wenn Leopolds trunksüchtiger Onkel und Vorgesetzter (Ernst-Hugo Järegård) den Neffen auf die Schlafwagenschaffner-Prüfung vorbereitet; wenn die Prüfer von ihm die korrekte Handhabung des grünen Formulars für die Abteil-Reinigung wissen wollen – ausgerechnet während der Verliebte dringend die Bombe platzieren muss, um seine vermeintlich von den Werwölfen entführte Frau zu retten. Das alles hat eine groteske Absurdität, nicht unähnlich einiger Handhabungen von Notbremsen, Sperren, Verordnungen in unseren heutigen Tagen.

Schlusswort

Und jetzt noch mein Schlusswort mit der Stimme des Historikers:

Europa ist historisch verortet, aber keine Nacherzählung historischer Ereignisse. Dennoch erzählt der Film mehr und anders über die Geschichte, als ein Sachbuch oder eine Dokumentation es vermag. Das ist die Qualität von großer Kunst. Lars von Triers magische und ins Surreale schwappende Bildwelten sind Seelenbilder. Wir lernen viel über die Menschen damals in einer Situation, die unübersichtlich ist und wenig Anhaltspunkte dafür bietet, wie eine bessere Zukunft aussehen könnte. Und damit lernen wir auch viel über uns selbst heute.

Also: treffen Sie sich mit Menschen zum Heimkino, mit denen Sie sich treffen dürfen, und schauen Sie Lars von Trier. Die ersten beiden Filme seiner Europa-Trilogie heißen Element of Crime (1984) und Epidemic (1987). Ich werde das auch tun und zähle schon die Tage bis zum nächsten Filmabend: 1… 2… 3 …

(Europa in der IMdB)