Willi Hentschke

Heute vor sechs Jahren erschien die Geschichte über Willi Hentschke und seine Familie im Berliner Tagesspiegel und darüber, wie ich helfen konnte, sie mit Mitteln der Genealogie zu beleuchten: Wurzeln ans Licht.
Aus diesem Anlass erzähle ich – mit freundlicher Genehmigung der Angehörigen – hier diese Geschichte aus meiner Sicht.

Mein Treffen mit Taissia

Am 3. März 2013 treffe ich in einer Pizzeria in der Nähe des Flughafens Berlin-Tegel Taissia Chinina-Kelly mit ihrem Mann aus England. Sie sind auf der Durchreise und wollen mich sprechen. Das ist ein ungewöhnlicher Auftakt für eine ungewöhnliche Recherche, denn die meisten meiner internationalen KlientInnen treffe ich nur virtuell online. Taissia erzählt mit weichem russischen Akzent von ihrer Mutter Julia Likacheva.

Lügen

Julia wurde im April 1937 in Woskresensk bei Moskau geboren, heute lebt sie in Nowosibirsk. Ihren Vater hat Julia nicht kennengelernt, jedenfalls nicht so, dass sie sich an ihn erinnern könnte. Denn kurz nach ihrer Geburt wurde er als angeblicher Spion und Staatsfeind von zuhause abgeholt und kam nicht zurück. Fast 50 Jahre dauerte es, bis sie die Wahrheit erfuhr, erst nach Glasnost und Perestroika. Vorher gab es allenfalls Halbwahrheiten und Lügen, bis hin zu dem 31. September 1956 als Todestag, einem Tag, den es im Kalender gar nicht gibt. Die Wahrheit war die: Willi Hentschke fiel Stalins Großer Säuberung zum Opfer und wurde wenige Wochen nach seiner Verhaftung wie Zehntausende andere auf dem Schießplatz Butowo bei Moskau erschossen.

Lücken

Dieses Schicksal hat in der Familienüberlieferung eine große Lücke gerissen. Und solche Lücken sind es häufig, die Menschen dazu veranlassen, sich auf die Spuren ihrer Eltern, Großeltern oder Urgroßeltern zu machen. Wo kam Willi Hentschke her, aus was für einer Familie stammte er?
Um Antworten auf diese Fragen zu finden, wollte Taissia mich treffen.
Sie hat einige Unterlagen für mich, mit deren Hilfe ich meine Suche beginnen kann. Immerhin ist bekannt, dass die Hentschkes in Berlin lebten, bevor Willi als Kommunist schon 1934 vor den Nazis in die Sowjetunion flüchtete. Bevor ich einen Auftrag annehme ist es für mich immer wichtig zu wissen, dass ich auch etwas tun kann. Dass es wahrscheinlich Quellen zu den gestellten Fragen gibt. Und das weiß ich ziemlich schnell, nachdem Taissia mir von ihrem Großvater erzählt hat.

Marc Jarzebowski im Tagesspiegel Heiligabend 2014

Keine Routine

Ich mache mich also an die Arbeit, finde Willis Geburtsregistereintrag aus dem Jahr 1910, die Heirat der Eltern. Die Mutter stammte aus einer Berliner Familie von Arbeitern und Laternenanzündern, der Vater war im Zuge der Industrialisierung aus Schwiebus in Ostbrandenburg zugewandert, dem heutigen Świebodzin in Polen. Sie wohnten im Wedding in einem Haus, das heute noch steht. Willi hatte einen jüngeren Bruder Robert.
Die Recherchen im Berliner Landesarchiv, im Archiv der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg, in den Beständen der Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv (SAPMO) zu Willi Hentschkes Flucht 1934, sowie die Korrespondenz mit dem Stadtplanungsamt Berlin-Mitte und mit verschiedenen Friedhofsverwaltungen sind aus methodischer Sicht Routinearbeiten, die Ergebnisse nicht spektakulär. Aber das Wissen über die emotionale Tragweite dieser Arbeit für die alte Frau in Sibirien und für ihre Familie macht den Auftrag dennoch zu einem besonderen für mich.

Fotos gegen das Vergessen

Das Treffen mit Taissia in Tegel bleibt nicht das einzige. Für den November 2014 kündigt sie sich mit ihrer Mutter in Berlin an, die sich gemeinsam mit einer Enkelin von Nowosibirsk aus auf den Weg machen möchte, um dem neu erlangten Wissen über ihren Vater nachzuspüren. Es wird ein bewegender Drei-Generationen-Besuch, den auch die Journalistin Verena Friederike Hasel für den Berliner Tagesspiegel mitverfolgt. Julia Likacheva zeigt uns die wenigen Erinnerungsstücke, vor allem ein Fotoalbum. Sie hat es selbst angelegt, um der Abwesenheit des Vaters wenigstens etwas entgegensetzen zu können. Eines der wenigen Fotos der ganzen Familie zeigt Willi Hentschke und seine russische Frau Elena in einem Wald, auf dem Arm trägt die Mutter in einem Bündel die kleine Julia.

Drei Generationen in Berlin

Ein Abschluss

Wir gehen in das Haus, in dem Willi mit seinen Eltern gelebt hat. Wir gehen auf den Domfriedhof an der Müllerstraße im Wedding. Die Friedhofsverwaltung war nicht mehr in der Lage zu sagen, wo genau sich die Gräber von Willis Eltern befanden, sie sind lange eingeebnet. Aber auf diesem Friedhof ruhen sie, und diese räumliche Präsenz ist für Julia von einer großen spirituellen Bedeutung. Sie entzündet Kerzen, die sie aus ihrer Heimat mitgebracht hat, und singt. Das ist ein intimer Moment, in dem ich in den Hintergrund trete. Selten ist eine Recherche wirklich abgeschlossen, selten sind alle Quellen erschöpft. Ich könnte noch weiter den Hentschkes nachspüren, Willis Bruder Robert etwa und dessen Familie. Aber doch habe ich das Gefühl, dass hier etwas zum Abschluss kommt. Julia betont immer wieder, wie wichtig für sie dieser Besuch ist. Einige Jahre später wird sie noch eine Reise unternehmen, nicht ganz so weit: In Butowo findet sie dann den Namen ihres Vaters auf einer Gedenktafel.

Julia Likacheva in Butowo

Das Leben der Lebenden

Für mich hat Julia eine Druckgrafik mitgebracht, in Form eines Lesezeichens. Ein symbolisches Dankeschön, das ich bis heute benutze. Die Genealogie ist nicht nur für das Erstellen von Stammbäumen gut. Die Geschichte von Willi Hentschke und seiner Tochter hat mir gezeigt, welche Bedeutung das Leben der Toten für das Leben der Lebenden haben kann.