Nachhause
Es war großartig, im Mai diesen Jahres nachhause zu kommen und wieder durch die Straßen von Philadelphia zu laufen. Virtuell zumindest. Der Stadt mit seiner langen Einwanderungsgeschichte fühle ich mich sehr verbunden, seit ich selbst mit meiner Familie dort eingewandert bin, für ein Jahr zumindest, im Juni 2007. Mit wundervollen NachbarInnenn und FreundInnen im diversen, liberalen und sehr grünen Stadtteil Mount Airy gleich nebenan von Germantown habe ich mich dort sehr zuhause gefühlt. Der Abschied im Sommer 2008 war entsprechend schwer.
Jetzt hat mich eine Familienrecherche wieder dorthingeführt.
1) Vor unserem Haus in Mount Airy, Philadelphia im Juni 2008
Der Auftrag
Ziel dieser Recherche ist es, mehr über den Großvater einer Klientin zu erfahren, von dem sie kaum etwas weiß. Seinem Sterberegistereintrag von 1935 nach sollte er im Jahr 1864 in Philadelphia geboren sein. Außerdem stammte er wohl aus einer jüdischen Familie, von der er im Alter von 14 Jahren weglief, um ein eigenes Leben zu beginnen. Wer waren seine Eltern, was für ein Leben führten sie in dieser Stadt?
Hilfestellung
Die Geschichte der jüdischen Gemeinden in Philadelphia war für mich, zwölf Jahre nach meinem eigenen Aufenthalt dort, ein neues Kapitel. Zusätzlich zu ausführlichen Online-Informationen (a) verdanke ich Marilyn Golden von der Jewish Genealogical and Archival Society of Greater Philadelphia (JGSGP) (b) und Jessica M. Lydon, der Leiterin des Special Collections Research Center (SCRC) an der Temple University in Philadelphia (c), schnellen Rat und unkomplizierte fachliche Unterstützung.
2) Der erste Friedhof der Mikveh Israel an der Spruce Street
Mikveh Israel
Um 1740 entstand in Philadelphia die erste Synagogengemeinde, eine der ältesten in den USA. Mikveh Israel folgt der Spanischen und Portugiesischen Tradition. Sie bekam das Gelände für den bis heute bestehenden Friedhof an der Spruce Street im Stadtzentrum zugesprochen.
Die erste Synogoge entstand 1782, und nach mehreren Ortswechseln befindet sich der 1976 eingeweihte Bau noch zentraler zwischen zwei Symbolen der amerikanischen Gründungsgeschichte gelegen, dem Grab Benjamin Franklins auf dem Friedhof von Christchurch und der Liberty Bell.
3) Für das Jahr 1864 ist in Mikveh Israel nur eine Geburt verzeichnet, nicht die von uns gesuchte.
Online
Dass der Großvater meiner Klientin aus einer Sephardischen Familie stammte, hielten wir für eher unwahrscheinlich. Dennoch habe ich die Geburtsregister von Mikveh Israel konsultiert. Die Gemeinde unterhält ihr eigenes Archiv. Einzelne Bände sind aber online abrufbar auf den Seiten der Digital Library der American Theological Library Association (Atla) (d). Darunter befindet sich auch ein Register mit Geburten von 1843-1886.
Rodeph Shalom
Wahrscheinlicher war es, dass der von uns gesuchte Großvater einer Aschkenasischen Tradition entstammte, seine Familie also nicht aus Süd- sondern aus Mitteleuropa kam. Orthodoxe Juden aus den Niederlanden, Deutschland und Polen gründeten in Philadelphia 1795 Rodeph Shalom als die älteste aschkenasische Gemeinde in Amerika. Im 19. Jahrhundert wurde sie Anlaufstelle für die meisten jüdischen Immigranten aus Europa und öffnete sich Reformen. 1869 erhielt sie erst ihre eigene Synagoge an der Broad Street, die 1928 durch den heutigen prächtigen Bau im neo-maurischen Stil ersetzt wurde.
Das Archiv von Rodeph Shalom ist eingegliedert in das Special Collections Research Center (SCRC) der Temple University in Philadelphia. Allerdings reichen die in dieser Gemeinde registrierten Geburten nur bis 1840; möglicherweise ist ein zeitlich darauf folgender Band nicht erhalten.
4) Rodeph Shalom Synagoge von 1928
Keneseth Israel
Es gab aber noch eine dritte Möglichkeit für unsere Suche nach dem Großvater. 1847 löste sich von Radoph Shalom eine Gruppierung deutschstämmiger Juden ab und gründete Keneseth Israel. In der Folge entwickelte sie sich zu einer der größten und bedeutendsten Reformgemeinden in den USA. Ihre ersten Rabbiner bezogen deutlich und lautstark Position gegen die Sklaverei. Nachdem sie mehrere Jahrzehnte eine umgewidmete Kirche in der New Market Street genutzt hatte, wurde 1892 eine neue Synagoge in der Broad Street eingeweiht. Seit 1957 hat die Gemeinde ihren Sitz in Elkins Park, einem Vorort von Philadelphia (e).
Jack A. Myers, der Archivar der Gemeinde, hat sich meiner Anfrage mit großem Eifer angenommen. Geburtsregister von Keneseth Israel gibt es nicht, aber zahlreiche andere Quellen wie Heiratsregister oder Listen von Mitgliedern und Religionsschülern. Leider war allerdings der von uns gesuchte Name auch darin nicht auffindbar.
Die Suche nach dem Großvater blieb in den jüdischen Gemeinden in Philadelphia also ergebnislos.
Die Suche geht weiter
Doch damit sind die Möglichkeiten noch immer nicht ausgeschöpft: im Jahr 1860, also vier Jahre vor der von uns gesuchten Geburt, setzte in Philadelphia die zivile Registerführung ein. Geburten wurden dort sortiert nach Krankenhaus, Arzt oder Hebamme und Datum verzeichnet. Auch das wird also keine schnelle oder einfache Suche. Dennoch freue ich mich auf sie, sobald das Zentrum für Familienforschung der Kirche der Heiligen der letzten Tage (Mormonen) in Berlin nach den Monaten des Lockdowns im Juni endlich wieder seine Türen öffnet.
Bis dahin laufe ich noch ein wenig weiter virtuell durch die – dank des gleichnamigen Songs von Bruce Springsteen berühmten – Straßen von Philadelphia, meinem alten Zuhause.
Anmerkungen:
(a) https://en.wikipedia.org/wiki/Jews_in_Philadelphia, https://en.wikipedia.org/wiki/Congregation_Mikveh_Israel, https://en.wikipedia.org/wiki/Congregation_Rodeph_Shalom_(Philadelphia), https://en.wikipedia.org/wiki/Reform_Congregation_Keneseth_Israel_(Philadelphia)
(b) https://jgsgp.org/
(c) https://library.temple.edu/scrc
(d) https://dl.atla.com/collections/congregation-mikveh-israel
(e) https://www.kenesethisrael.org/
Fotos:
1) Marc Jarzebowski
2) Quelle: wikipedia, Foto: Bruce Andersen, Lizenz: CC BY 2.0
3) Quelle: ATLA, Lizenz: gemeinfrei
4) Quelle: wikipedia, Lizenz: gemeinfrei