Von Gotteshaus zu Gotteshaus
Vor ein paar Tagen war ich wieder in Lübeck und auf meinem Weg in den Stadtteil St. Gertrud. Benannt ist er nach einem spätmittelalterlichen Pestfriedhof und einer Kapelle, die der heiligen Gertrud von Nivelles geweiht war, einer Verwandten Kaiser Karls des Großen. Den Friedhof und die Kapelle gibt es schon lange nicht mehr. Mein Ziel war ein anderes Gotteshaus: der Tempel der Kirche der Heiligen der Letzten Tage, auch bekannt als Mormonen.Geschichte und Genealogie
In der Zunft der Genealogie sind die Mormonen vor allem als Hüter unzähliger Kirchenbücher und anderer genealogischer Quellen bekannt. Da es bei den Mormonen in Berlin seit langem Probleme mit dem Zugang zu diesen Quellen gab, wollte ich nun die Filiale in Lübeck nutzen. Doch es kam anders.
St. Gertrud war übrigens neben St. Jürgen und St. Lorenz eine der drei Vorstädte, also vor den Mauern zur Altstadt liegende sekundäre Wohngebiete. Das Tolle an einer Stadt wie Lübeck ist, dass man heute noch ziemlich genau sehen kann, wie sie historisch gewachsen ist. Trotz Weltkriegszerstörungen und Neubauten.
Durch die Altstadt
Ich war also auf dem Weg durch die Altstadt. Durch das Holstentor, das wohl berühmteste mittelalterliche Stadttor in Deutschland, hatte ich sie betreten und lief auf der Königsstraße Richtung Burgtor, durch das ich sie wieder verlassen wollte, um zur Vorstadt zu gelangen. Ich lief vorbei am Katharineum, dem altsprachlichen Gymnasium, das nach der Reformation in die Gebäude des mittelalterlichen Katharinenklosters des Franziskanerordens eingezogen war. Schülerinnen und Schüler belegten nach ihren Abiturprüfungen den ganzen Gehweg und spielten Bierball.
Burg und Kloster
Dann hatte ich schon das Burgtor vor mir im Blick. Zu dem Burgtor gehört eine Burg, könnte man meinen. Ganz falsch ist das nicht: In der nordwestlichen Altstadtecke gab es einen uralten slawischen Burgplatz. Die mittelalterliche Burg wurde aber schon 1226 abgerissen, das Burgtor erst 200 Jahre später gebaut. Zu dieser Zeit war an die Stelle der Burg schon ein Kloster getreten: Das Burgkloster. Es war der heiligen Maria Magdalena geweiht und das Zuhause von Dominikanermönchen.
Mönche für die Armen
Die Franziskaner und die Dominikaner: diese beiden geistlichen Orden suchten anders als etwa die Benediktiner nicht die Abgeschiedenheit zum Beten und Arbeiten, sondern fanden ihre Berufung in der Fürsorge für andere und siedelten sich daher in Städten an. Lübeck war in dieser Hinsicht also nichts Besonderes.
Das Lübecker Extra
Doch dann stolperte ich geradezu in eine Lübecker Besonderheit hinein. Der Anlass war ein gewaltiger Regenschauer. Sonne und dunkle Wolken wechselten sich ab, Aprilwetter eben. Da war ich froh, im richtigen Moment eine offene Tür zu finden, um mich vor dem kalten Nass zu schützen. Zudem führte diese Tür in ein historisches Gebäude. Nachdem ich eingetreten war, rieb ich meine Augen: Ich stand in einer kirchenartigen gotischen Halle mit bunten Glasfenstern und großformatigen mittelalterlichen Wandmalereien. Doch eine Kirche war dies offensichtlich nicht, zumindest keine gewöhnliche Kirche. Ich durchquerte die Halle und ging durch eine Türöffnung, hinter der ich das Längsschiff vermutete. Hoch und lang war der Raum hinter der Vorhalle tatsächlich, aber zugebaut mit flachen nummerierten Holzkammern, jeweils etwa nur zwei mal zwei Meter in der Fläche. Der Kunsthistoriker in mir war ratlos.
Im Altersheim
Immerhin mit meiner Datierung lag ich richtig: Die Steinmauern 13./14., die Holzwände 19. Jahrhundert. Und natürlich blieb ich nicht lange unwissend dank der Informationstafeln im Gebäude. Dass es sich bei ihm um eine einzigartige Einrichtung und weithin bekannte Lübecker Sehenswürdigkeit handelt, hätte ich allerdings schon vorher gehört haben und wissen können oder müssen. Das Heiligen-Geist-Hospital ist nämlich das am längsten in Funktion befindliche Alters- und Pflegeheim der Welt, seit seiner Gründung im Jahr 1227 bis heute. Diese Tradition könnte in diesem Jahr enden, denn aus dem Lübecker Rathaus heißt es: die nötige Sanierung der Einrichtung sei „wirtschaftlich nicht machbar“. Der Streit läuft derzeit auf höchster politischer Ebene, Ausgang: ungewiss.
Die Genealogie der Altenpflege
Natürlich hat sich in Sachen Altenpflege einiges getan in den letzen knapp 800 Jahren. Anfangs schliefen die Bewohner in langen Reihen aufgestellter Betten und lebten ähnlich wie Mönche und Nonnen nach strengen Regeln. Mit der Reformation wurde das Hospital zu einer weltlichen Einrichtung. Seit dem 17. Jahrhundert gab es für jeden immerhin acht Mal im Jahr ein warmes Bad. Privatsphäre hielt hingegen erst im 19. Jahrhundert Einzug: um 1820 wurden die hölzernen Kammern gebaut, die bis heute zu sehen sind. Nach oben hin sind diese übrigens offen und sie erinnern mich an Notunterkünfte für Geflüchtete in großen Hallen wie dem Flughafen Berlin-Tempelhof.
Voller Leben
Entsprechend lebhaft dürfte es hier früher zugegangen sein, und zwar nicht bis irgendwann lange vor unserer Zeit, sondern bis zum Jahr 1970. Das Jahr, in dem ich geboren wurde. Bis 1970 waren die kleinen hölzernen Kammern bewohnt, spielte sich in den Gängen das Altenheimleben ab, mit einer Bücherei und einer Apotheke. Ein Blick in eine der Kammern und alte Fotos vermitteln einen Eindruck von diesem Leben. Heute hingegen wohnen die Bewohner in Nebengebäuden, hat das Haupthaus musealen Charakter. Und in der Vorhalle zeigt ein detailverliebtes Modell, wie es einmal ausgesehen haben dürfte, in dem und um das Hospital.
Und meine Genealogie bei den Mormonen?
Daraus wurde nichts. Nach dem Regenschauer setzte ich meinen Weg durch das Burgtor hindurch nach St. Gertrud fort und wurde vor dem Tempel von zwei jungen Missionaren der Kirche empfangen: Sie hätten mir am Telefon leider eine falsche Auskunft gegeben, die Forschungsstelle mit den Kirchenbüchern sei heute doch nicht zugänglich, sondern nur nach vorheriger Absprache mit deren Leiter. Auf die spirituelle Versenkung im Rahmen meiner Arbeit musste ich an diesem Tag also verzichten. Um so dankbarer war ich für die unverhoffte wetterbedingte Zwischenstation im Heiligen-Geist-Hospital. Dort habe ich nicht nur eine ganze Menge hinzugelernt, sondern auch Momente spiritueller Versenkung erlebt. Geschichte statt Genealogie!
Zu Lübeck siehe auch diesen Blog-Beitrag: Das erste Mal. Recherche in Lübeck
Seite der Altenheimstiftung: Heiligen-Geist-Hospital