Der Weg zum Gedenkort

Dieser Gedenkort im Berliner Bezirk Tempelhof ist zugleich einer der am wenigsten bekannten und einer der eindrücklichsten.
Die Papestraße kenne ich seit langem, denn der Bahnhof Südkreuz hieß vor seinem Ausbau zum Fernbahnhof S-Bahnhof Papestraße. Aber den öffentlich zugänglichen Keller eines ehemaligen Kasernengebäudes habe ich erst vor wenigen Jahren entdeckt. Es gibt diesen Gedenkort auch erst seit 2013. Bis dahin war es ein langer Weg. In den späten 1970ern wiederentdeckt, wurde der Ort in den 80ern eine Station auf politischen Stadtführungen und führte 1991 zur Gründung einer Geschichtswerkstatt, einer seit den 70ern in Deutschland verbreiteten Geschichte von unten, meist getragen von Menschen aus der Nachbarschaft. In diesem Fall wohnten sogar einige Mitglieder selbst in dem betreffenden Haus. Durch die Entdeckung von fast 80 Jahre alten Gefangenenritzungen und durch die Berichte von Zeitzeugen, die sich auf Zeitungsaufrufe hin meldeten, konnten die Kellerräume eindeutig als Ort des Gefängnisses identifiziert werden. Es dauerte aber noch über zehn Jahre, bis mit den beteiligten Parteien und den nötigen finanziellen Mitteln der Weg für eine Dauerausstellung frei gemacht werden konnte.

SA-Gefängnis Papestraße: Kellergang

Geschichten vom Leben und Sterben

Was ist nun das besonders Eindrückliche an diesem Ort? Zum einen ist es die oben beschriebene Geschichte seiner Wiederentdeckung aufgrund zivilbürgerlichen Engagements. Das bezieht sich auch auf die weitere Aufarbeitung, auf die Erforschung von Biographien, ebenso von Opfern wie von Tätern. Die dokumentierten individuellen Lebens- und Leidensgeschichten machen die Vergangenheit des Ortes viel greifbarer, als es nur die leeren Räume täten. Doch die Wände hängen nicht voll von alten Verhörprotokollen, Quittungen, Entlassungsscheinen, Krankenakten, Fotos von Misshandlungsspuren, Sterbeurkunden oder Werken, die sich mit dem Ort künstlerisch auseinandersetzen. BesucherInnen laufen also nicht Gefahr, bei den über 500 namentlich bekannten Inhaftierten und deren – mehr oder weniger genau überlieferten Geschichten – den Überblick zu verlieren. Nein, die Dokumentation an den Wänden ist sparsam, und in einem separaten Raum lässt sich anhand von Ordnern individuell einzelnen Schicksalen nachgehen. Ein anderer Raum erinnert mit einer künstlerischen Lichtinstallation an die Namen der hier Ermordeten. Doch die ehemaligen Hafträume sprechen im wesentlichen durch sich selbst.

SA-Gefängnis Papestraße: Haftraum für Frauen

Symbole der Menschenverachtung

Und das ist eine weitere eindrucksvolle Eigenheit dieses Gedenkortes: Er ist weitestgehend so erhalten, wie er von März bis Dezember 1933 – also nur verhältnismäßig kurz – genutzt wurde. Früher sprach man von wilden, heute eher von frühen Konzentrationslagern. Er steht exemplarisch für ein engmaschiges System von zum Teil improvisierten Haft- und Folterstätten, mit dem die Nationalsozialisten anfänglich ihre Macht sicherten. Nach dem Brand des Reichstags und der darauffolgenden Verordnung zum Schutz von Volk und Staat – quasi der Abschaffung verfassungsmäßiger Freiheitsrechte – vom 28. Februar 1933 wurden in Berlin rund 220 solcher Schutzhaft-Stätten eingerichtet, meist an Standorten von SA-Sturmlokalen oder – wie in der Papestraße – von paramilitärischen Kasernen. Erst später, ab Ende 1933, wurden KZs systematischer angelegt und betrieben, und es entstanden jene großen, meist abgelegenen Einrichtungen, die in das kollektive Gedächtnis eingegangen und zum Symbol nationalsozialistischer Menschenverachtung geworden sind: Auschwitz, Sachsenhausen, Dachau.

SA-Gefängnis Papestraße: Haftraum

Ein fast normaler Keller

Der Keller in der Papestraße ist etwas völlig anderes. Eigentlich nur der gewöhnliche und leergeräumte Lagerkeller eines Mehrfamilienhauses. Und gerade das macht ihn so eindrucksvoll: Hier gibt es keine Lagertore mit zynischen Sprüchen, keine Stacheldrahtzäune und Wachtürme, keine hölzernen Mehrfachbettgestelle, keine Öfen. Dieser Ort ist frei von einer solchen Ikonographie des Bösen, die uns vertraut ist und zugleich Abstand schafft. Die Abschaffung der Demokratie durch den Entzug von Freiheit, durch die Verfolgung Andersdenkender und durch die gezielte Verbreitung von Angst fand in unseren eigenen Kellern statt, dort, wo unsere Eltern und Großeltern lebten. Nicht im Wald und auf der Heide neben der Gesellschaft, sondern in ihr, in den Städten, Dörfern, Wohngebieten.

Eine Zeitzeugin aus dem Nachbarhaus in der Papestraße erinnerte sich 1980: Dann haben wir als Schulkinder von der Kellertüre aus und durch ein Fenster gesehen, wie Männer im Kellergang Menschen über so einen Sägebock legten und schlugen (zitiert nach dem Katalog, hg. v. Irene von Götz und Petra Zwaka: SA-Gefängnis Papestraße. Ein frühes Konzentrationslager in Berlin, Berlin 2013, S. 84).

SA-Gefängnis Papestraße: ehemaliger Waschraum

Sichtbare Anfänge

Das ist die wichtige Erkenntnis, die ich von meinem Besuch des Gedenkortes SA-Gefängnis Papestraße mitgenommen habe: Nur durch die Verbundenheit mit den Orten und mit den Menschen, die unsere Eltern, Großeltern, Urgroßeltern waren und die zu deren sozialen Umfeldern gehörten, können wir die Erinnerung an die Geschichte des Nationalsozialismus als unsere eigene Geschichte lebendig halten. Das gilt insbesondere in der nun beginnenden Zeit, in der es keine lebenden Zeitzeugen mehr gibt. Der Genealogie, der Familienforschung, dem Fragen nach unseren eigenen Vorfahren und danach, was sie taten und dachten, kommt dabei eine ganz entscheidende Rolle zu. Wie anfällig die Demokratie für Angriffe ist, sehen wir in diesen Wochen täglich in den Nachrichten. Wehret den Anfängen (eigentlich vom römischen Dichter Ovid auf das Sich-Verlieben bezogen) ist im Bezug auf Diktatur und Terror zu einem geflügelten Wort geworden.
Hier in den Kellern in der Papestraße – heutzutage mit der Adresse Werner-Voß-Damm 54a – waren die Anfänge sichtbar und bleiben es dank der engagierten Mitglieder der Geschichtswerkstatt bis heute.

Gedenkort SA-Gefängnis Papestraße
Werner-Voß-Damm 54 a
12101 Berlin

Internet: www.gedenkort-papestrasse.de

Öffnungszeiten:
Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Samstag und Sonntag: 13 bis 18 Uhr
Montag und Freitag geschlossen
Der Eintritt ist kostenfrei.
Zur Zeit wegen der Pandemie geschlossen.