Ein Name mit Klang

Meine Eltern hatten eine Freundin namens Gildemeister. Daher wusste ich schon als Kind, dass dieser Name für eine angesehene Bürgerfamilie in meiner Heimatstadt Bremen steht.
Johann Friedrich Gildemeister (1750-1812) und sein Sohn Johann Carl Friedrich (1779-1849) waren Doktoren der Rechtswissenschaften, der Sohn außerdem Bremer Senator, ebenso wie dessen Sohn, der Übersetzer und Schriftsteller Otto Gildemeister (1823-1902). 1871-1875, 1882, 1884 und 1886 hatte Otto Gildemeister zudem das Bürgermeisteramt inne. Ihm wird auch das niederdeutsche Motto der Bremer Kaufmannschaft zugeschrieben: buten un binnen – wagen und winnen (draussen und drinnen – wagen und gewinnen). Seit 1899 gehört es zum Fassadenschmuck des so genannten Schüttings, des Hauses der Bremer Kaufmannschaft am Markt. Jeder Bremer und jede Bremerin kennt auch heute noch dieses Motto, zumindest die erste Hälfte, durch die tägliche Bremer Nachrichtensendung mit dem Titel Buten und Binnen.

Allee zu Hermann Görings ehemaligem Jagdpalast Carinhall mit Torhäuschen

Portal des Schüttings in Bremen mit dem Motto Buten un Binnen – Wagen un Winnen, Foto: Jürgen Howald, Quelle: Wikipedia, Lizenz: Creative Commons.

Das Tagebuch

Die Liste der verdienstvollen Gildemeisters ließe sich fortsetzen. Aber schon jetzt dürfte klar sein, warum ich aufhorchte, als ein alter Schulfreund vor ein paar Jahren bei einem Klassentreffen ein Tagebuch August Wilhelm Gildemeisters erwähnte. Er habe dieses in Leder gebundene Notizbuch von seinem Großvater geerbt, und er stelle es mir gerne für meine Arbeit als Historiker und Genealoge zur Verfügung.
Dabei war der Stammbaum der Gildemeisters gar nicht so interessant für mich. In meiner Arbeit geht es ja oft um Stammbäume, um Namen, Orte und Daten von Geburten, Heiraten und Sterbefällen, also um die Eckdaten menschlichen Lebens, die quasi das Rückgrat der Genealogie darstellen. Aber der Reiz dieses Tagebuches ist ein ganz anderer. Näher dran an den Erlebnissen des jungen Kaufmannsohns in der Fremde kann man gar nicht sein. Und so beschloss ich 2015, dieses Tagebuch als eine Art Freizeitbeschäftigung und ohne Auftrag zu veröffentlichen. Bei einer Umbenennung und völligen Umgestaltung meiner Website verschwand es nach ein paar Jahren wieder von ihr. Ich wurde aber in der letzten Zeit öfter darauf angesprochen und lade es hier daher gerne wieder hoch. Es freut mich, wenn Gildemeisters Erlebnisse in den Jahren 1813 und 1815 auf Interesse stoßen. Beigetragen hat dazu sicherlich auch ein ausführlicher Zeitungsartikel über meine Arbeit von Erika Thies, der am 1. Mai 2016 im Bremer Weser-Kurier erschien und hier nachgelesen werden kann.

August Wilhelm Gildemeister: Tagebuch, Bremen-Schriftzug
Marc Jarzebowski mit dem Tagebuch August Wilhelm Gildemeisters

Bremen unter Napoleon

Das Tagebuch stammt aus einer Epoche, an die das freiheitsliebende Bremen sich nicht gerne erinnerte: aus der Franzosenzeit. Sie war kurz zwischen 1810 und 1813, aber doch ein Einschnitt. Unter anderem hatte Napoleon die Idee, dass reiche und angesehene Bürger ihre Söhne nicht mehr vom Militärdienst freikaufen konnten. Und so gehörte Gildemeister im September 1813 zu den 80 jungen Bremer Männern, die in Napoleons Namen nach Lyon ziehen sollten, um sich dort mit anderen Kontingenten zum 4. Regiment der Garde d’Honneur, der Ehrengarde, zu formieren.
Vor ihrem Abmarsch versammelten sich die Bremer am östlichen Stadttor, dem Ostertor, also im heutigen Viertel, wo ich auch meine ersten Lebensjahre verbracht habe und später manche Abende in angesagten Kneipen.

 

Mit Napoleon auf Tour: Artikel aus dem Weser-Kurier von 2016

Musik

Gildemeister und seine Kumpel versuchten, sich die unangenehme Pflicht, begonnen am Ostertor an einem sehr traurigen Tag zu angenehm wie möglich zu machen. Musik spielte dabei eine große Rolle:
So lange wie von Kapff noch bei uns war, dieser ein großer Musikliebhaber und guter Sänger, kamen wir gewöhnlich Abends in eins unserer Quartiere zusammen um zu singen; zu dem Ende hatte ich 3 Hefte Terzette mitgenommen, die wir ziemlich gut einstudierten und dadurch, daß einige andere Cameraden musikalisch waren, so hat uns die Musik auch späterhin, wie v. Kapff uns verließ, manch frohe Stunde gemacht (ergänzt: und das viele Schwere des Feldzuges versüßt).
Besonders anrührend finde ich auch eine Passage über das Musizieren im Wald:
Wilm und ich spielten am Abend noch Douette auf dem Flageolett zusammen, welches recht hübsch im Holze klang, allein bald darauf vertrieb uns ein starkes Gewitter, welches sehr schnell aufzog und uns nöthigte, jeder in sein Quartier zu fliehen.

Krieg

Wer aufregende Kampfszenen erwartet, wird enttäuscht: Als ihm und seinen Kameraden am 19. Januar 1814 die Order erteilt wird, nach Paris zu ziehen und die Stadt zu verteidigen, desertieren sie. Ein Schlachtfeld er- und überlebt Gildemeister aber dann doch noch, allerdings auf der anderen Seite, der richtigen aus seiner Sicht: Gegen Napoleon. Denn im April 1815 zog Gildemeister mit anderen Freiwilligen erneut aus Bremen los und schloss sich dem Freikorps unter dem Kommando Ludwig Adolf Wilhelm von Lützows an. Die Uniformfarben dieser Einheit – schwarzer Stoff, roter Kragen und goldene Knöpfe – bildeten später die Grundlage für die deutsche Flagge.
In dieser unserer Stellung hatten wir den Anblick des ganzen Schlachtfeldes, wo die Truppen in langen Linien durcheinander fochten. Von den vielen hundert Kanonen, die hier gegeneinander feuerten, hörte man nicht einzelne Schüsse, sondern die Kanonade war wie ein fortwährender Trommelwirbel, und wo auch keine Pause von einer Secunde zwischen blieb und ein ungeheurer Pulverdampf bedeckte alle die fürchterlichen Scenen.
Gildemeister schildert den Verlauf der Schlacht am 16. Juni 1815 bei der Stadt Ligny in Belgien ausführlich, sicherlich einer der dramatischen Höhepunkte des Tagebuches.

Stadtbesichtigungen

Ansonsten geht es viel um das Wetter und um die Qualität der Quartiere. Ganz so, wie wir noch bis vor kurzem – vor SMS und Messenger – Urlaubspostkarten nachhause schickten.
Es gibt aber auch unterhaltsam-skurrile Passagen wie Gildemeisters Besichtigung der größten Merkwürdigkeit in Trier, der Porta Nigra:
An der einen Seite rechter Hand links, wo man durch die kleine Pforte geht, nachdem man drei Tritte, keine Abtritte, hinaufgestiegen ist, bietet sich dem Auge ein majestätischer Anblick dar, drei Solvovenia in einer Reihe erheben sich im Hintergrunde des Gebäudes, wo der Sage nach St Petrus selbst seine Nothdurft mit eigenen popo verrichtet haben soll, obs wohl wahr ist?
Da ist dem Schreiber wohl einiges durcheinander geraten, vermutlich bezieht er sich auf den Ostturm, wo sich im 11. Jahrhundert der byzantinische Mönch Simeon eingemauert haben soll, nicht der Heilige Petrus! Was Solvovenia heißen soll, weiß ich nicht. Viele Fremdwörter, vor allem französische, sind in dem Tagebuch falsch geschrieben. Die meisten konnte ich aufschlüsseln. Dieses nicht. Wer kann helfen?
Wie die Passage von Petrus Popo in Gildemeisters Tagebuch kommt, erklärt er im Anschluss daran selbst:
Dieses allerliebste Gewäsch ist von meinen verpfluchten Cameraden Weber und Feitzmann ohn mein Wissen und Willen hinterlistiger Weise niedergeschrieben worden.
A. W. Gildemeister, d. 11ten Nov. 1814.
Schön ist auch die Schilderung einer Stadtbesichtigung von Paris am 8. Juli 1815, mit der der Bericht von der zweiten Reise leider abbricht:
Aus dem Garten gingen wir in das daranstoßende Naturalien-Cabinet. Im Thierreiche war hier, was uns besonders merkwürdig schien, das Kängeruh aus Neu-Holland, das Beutelthier, der Ameisenlöwe, das Ai, das Schnabelthier, der Strauß, das Rhinoceros, die Giraffe, das größte unter allen Thiere, und das einzigste Exemplar, welches man bis jetzt in Europa besitzt, Elennthier, das Lama, das Rennthier, das Moschusthier, die Angoraziege, die Buckelkuh, das Gnu, die verschiedenen Gazellen etc.
Den vollständigen Text des Tagebuches von August Wilhelm Gildemeister finden Sie unter dem Menupunkt Quellen oben oder hier.
Über Kommentare, Korrekturen und mögliche Fragen freue ich mich.