Die Kindheit als Kern

Literarische Werke sind nach meinem Verständnis oft – ebenso wie Stammbäume, nur eben andersartige – Ergebnisse einer Beschäftigung mit den eigenen Wurzeln. Das Verarbeiten von Erinnerungen an die eigene Kindheit, an die Eltern und Großeltern in fiktionalen Texten ist so gesehen auch eine Form von Familienforschung. Viele Schriftstellerinnen und Schriftsteller ziehen aus diesem Erinnerungsschatz einen Großteil ihrer Inspiration. Für einen meiner persönlichen Lieblingsautoren gilt das in besonderer Weise: Aharon Appelfeld. Das Thema Kindheit und Familie ist in seinen über 40 Romanen nicht nur Hauptgegenstand, sondern geradezu der Kern, aus dem heraus seine Art zu schreiben und das Schreiben überhaupt erwächst.

Ein Überlebender

Der 1932 in der Nähe von Czernowitz in der Bukowina (heute Rumänien) geborene und 2018 in Israel verstorbene Appelfeld war ein Child Survivor (s. dazu auch meine vorhergehende Besprechung von Survivors von Rebecca Clifford). Als er acht war, wurde seine Mutter von rumänischen Antisemiten getötet, er zusammen mit seinem Vater in ein Arbeitslager gesteckt und dort vom Vater getrennt. Er floh, versteckte sich in den Wäldern, arbeitete auf rumänischen Bauernhöfen und verbarg seine jüdische Identität. 1944 schloss er sich der Roten Armee als Küchenjunge an und emigrierte nach Kriegsende nach Israel. Erst 1950 erfuhr er, dass auch sein Vater überlebt hatte.

Die Poetik des Schreibens

In seinem zuletzt vor seinem Tod 2017 in Deutschland erschienenen Buch Meine Eltern steht nicht dieses Schicksal der Kriegsjahre im Mittelpunkt, sondern die Zeit davor. Der achtjährige Erwin verbringt den Sommer 1938 unbeschwert am Fluss Pruth in den Karpaten, während in weiter Ferne langsam wie dunkle Wolken die Gefahr von Aggression, Verfolgung und Krieg aufzieht. Aber Appelfeld schreibt keine Erinnerungsliteratur, wie er ausdrücklich betont: Das Bewahren und Festhalten von Erinnerungen ist ein antikünstlerischer Ansatz. Die Erlebnisse seiner Kindheit und Jugend seien der Boden, aus dem sein Schreiben erwachse, und die Orientierung, die vor Verwirrung schütze. Für den künstlerischen Schaffensprozess brauche es zeitlebens den naiven Blick des Kindes.

Aharon Appelfeld: Meine Eltern (Buchcover)

Am Pruth

Der Anfang von Meine Eltern liest sich tatsächlich eher wie eine Poetik, wie eine Abhandlung über das Schreiben. Dabei gelingt es Appelfeld aber sehr elegant, die Leserschaft allmählich mit in seine Geschichte hineinzuziehen. Die schnörkellose Sprache, die einfachen und starken Beschreibungen – ein Feld mit gelben Sonnenblumen, silbernen Pappeln, die Tag und Nacht säuseln, hohes, dichtes Schilf, in dem Vögel nisten, deren helles Pfeifen mich nachts weckt – haben mich bei der Lektüre selbst mit an die Ufer des Pruth versetzt.

Dort lernen wir aus Kinderperspektive nach und nach die anderen Sommerfrischler kennen, allesamt aus der jüdischen Czernowitzer Mittelschicht. Den einbeinigen Mann, der seine Einsamkeit hinter einem autoritären Ton verbirgt, die von bunten Sommeraccesoirs umgebene Frau mit den großen Brüsten auf der Suche nach einem Liebhaber, die Wahrsagerin Rosa Klein, den Schriftsteller Karl König.

Die Stimmen der Eltern

Die eigenen Eindrücke werden oft von den Eltern kommentiert, meist dissonant zweistimmig, von dem nüchtern-sarkastischen Vater der Menschen verachtete, die sich nicht beherrschen konnten, anders als von der empathischen Mutter, deren Beziehung zu Menschen, Tieren und Gegenständen voller Andacht war.

Der Blick des Kindes auf seine Eltern, auf deren unterschiedliche Charaktere und ihren Umgang miteinander, ist das titelgebende Thema des Buches, auch die Reflexion darüber, wie sich diese Eigenschaften vereint in ihm selbst weiterentwickelt haben: Um zu schreiben, braucht es ein starkes Gefühl, begeisterte Phantasie und Hingabe, aber ohne Überlegung und genaues Auswählen wird daraus nur eine Art formloser Brei.

Die hohe Kultur?

Auch das drohende Unheil und die Angst der Menschen davor betrachten die Eltern unterschiedlich. Schon 1938 vermuteten viele, dass ein großer Krieg bevorstehe, der sich gegen die Juden richten würde, schreibt Appelfeld. Doch niemand konnte sich das Ausmaß vorstellen. Einige der Feriengäste am Pruth beruhigen sich selbst: Die hohe deutsche Kultur wird sich nicht von einem Diktator beherrschen lassen. Andere äußern Zweifel daran. Die Mutter: Wir machen alle mal Fehler. Irren ist menschlich. Der Vater: Irren und sich wieder irren ist Dummheit.
Die Mutter versteht die Panik der Menschen vor dem, was droht. Der Vater fragt: Kann denn die Panik den Krieg aufhalten?

Tränen

Zurück in der Stadt, treffen sich die Sommergäste noch einmal zu der Beerdigung des einbeinigen Mannes. Der Vater kämpft – am Ende vergeblich – um die Existenz seiner Fabrik, der Junge wird auf dem Schulweg als Drecksjude beschimpft und verprügelt, die Mutter versucht, das Zuhause zu einem Ort der Geborgenheit zu machen. Auch das kann nicht gelingen. Der Krieg ist noch weit weg, sagt sie zu Erwin. Doch der Junge bricht in Tränen aus, weil er weiß, dass nichts ihn aufhalten kann.

Aharon Appelfeld hat mit Meine Eltern ein unglaublich schönes Buch geschrieben und ein unglaublich trauriges. Auf seine poetische Stimme möchte ich, der sich sonst eher nüchtern mit Familiengeschichten befasst, nicht verzichten.